Die promovierte Agrarökonomin initiiert ihre künstlerische Laufbahn mit der kräftezehrenden Steinbildhauerei, widmet sich zunächst subtraktiven Arbeitsmethoden. Neugieriges Erforschen bildhauerischer Arbeitsmethoden führt sie zum Einsatz industriell hergestellter Rundeisen und zur Produktion von Eisenstelen, die sich durch feine parallele Linien mit waagerechten Akzenten auszeichnen, Vorreiter ihrer späteren Arbeiten. Oberflächen besitzen für sie einen besonderen Reiz. Die angesetzten Schwarzeisen der Stelen spiegeln eine Ästhetik des Verfalls und die Schönheit des Verschlissenen, thematisieren das Vergehen der Zeit, auch als Schöpfungskomponente. Diese Ästhetik findet sich in den Bildobjekten wieder.
Maria Lehmbrock widmet sich von Anfang an auch der Malerei, vor allem einer, die dem abstrakten Expressionismus verbunden ist. Sie probiert die Wirkung von Kreisen und von monochromer Malerei aus und beschäftigt sich bis heute mit subtilen Farbnuancen. Konsequenterweise beginnt die Künstlerin ab 2013 in einem spannungsreichen Spiel zwischen Malerei und Bildhauerei damit, Bildobjekte aufzubauen, reich an Webarten und Texturen, in einem Spektrum von fein- bis grobmaschig, opak bis transparent. Sie komponiert viereckige Assemblagen, dem Format der Leinwand entsprechend, die sie als ureigenes Kernstück der Malerei zum Grundgerüst deklariert. Aufgebaut werden sie aus industriell hergestellten, handelsüblichen Fundstücken ihres häuslichen und Lebens-Umfeldes, vorrangig Verpackungsmaterialien. Ihre Auswahl kann als historisches Zitat der Materialien in kubistischen und in surrealistischen Collagen oder auch in den Merz-Bilder Kurt Schwitters gesehen werden: Eine Art Hommage an die Moderne.
Es sind vor allem die spezifischen Materialeigenschaften, die Maria Lehmbrock inspirieren. (Sack-)leinen, Seile, Garne, Kordeln, Schnüre, Taue, Bindfäden, Malerfilze und Folien, an unterschiedlichen Orten aufgespürt, kommen zum Einsatz. Von Innen nach Außen, die Leinwand als Basis, schichtet die Künstlerin Stoffe übereinander, prozessorientiert und intuitiv, so, wie sie spürt, dass die Materialien es fordern: sie umwickelt, verpackt, verschnürt, klebt und füllt aus. Ohne Vorstudien trifft sie beim Entstehungsprozess ihrer Bildobjekte bewusst Entscheidungen. Sie experimentiert, variiert, entwickelt einem Automatismus vergleichbar mit der écriture automatique der Surrealisten. Das Ergebnis bietet eine Wirkungs-Bandbreite zwischen zart und verletzlich, kraftvoll und labil.
Die Konzentration auf die Auseinandersetzung mit der senkrechten und der waagerechten Linie – Das Koordinatensystem als Metapher für Denkstrukturen und Bildräume der Moderne – führt zu einer Reduktion. Ohne Zierde, ohne unnötig Buntes zielt sie auf eine Vereinfachung der Werke, die Kraft und Ruhe ausstrahlen. Piet Mondrian widmete sich seinerzeit ausführlich den der Natur innewohnenden Gesetzmäßigkeiten, kondensierte sie zu ausbalancierten Raum-Systemen. Diesem Erbe folgend, beinhaltet Maria Lehmbrocks System den ausgeglichenen Einsatz von Gegensätzen. Beim Betrachter stellt sich das Gefühl von seelischer Harmonie ein.
Werkreihen betitelt Maria Lehmbrock in Bezug auf Verarbeitungsmethode und Materialverwendung mit präzis gewählten lateinischen Begriffen: Linum, Naturalis und Signum. Die Titel vermitteln über das Interesse der Künstlerin an der geschichtsträchtigen Sprache hinaus den Eindruck, historische Bedeutungsansprüche zu stellen, als hätten wir es mit Objekten aus fernen, alten Kulturen zu tun. Verpacktes, Verhülltes, Verborgenes: allen drei Werkreihen gemeinsam ist nicht nur die Reduktion auf wenige Farben (Weiß, Karbonschwarz oder naturbelassene Sackleinenfarbe), sondern auch die Aufmerksamkeit, die die jetzt verhüllten Gegenstände erfahren. Es wird angedeutet, dass den Betrachter eine Überraschung erwartet, dass es sich um eine Kostbarkeit handelt. Je nach Hintergrund, etwa bei kompletter Schwärzung, assoziiert man den Tod, oder man denkt bei Werken mit Verschnürungen und Umwicklungen an ein Geschenk und an das Aufbewahren z. B. ägyptischer Mumien, während leichte, halbdurchsichtige Gaze ein Hauch von Erotik in der Luft mitschwingen lässt.
Feine Texturen und durchgehend geweißte Oberflächen sind vor allem der Werkreihe Linum zuzuordnen. Einige Werke entstehen durch das Aufwickeln paralleler Stoffbahnen in waagerechten und senkrechten Bahnen, in Schichten alternierend. Im Durchblick werden sie additiv zu verschachtelt-vergitterten Raum-Systemen, stellenweise zu Freiräumen für einfließendes Licht. Sie machen den Betrachter neugierig auf das, was darunter hinterlegt ist. In anderen Werken schneidet Maria Lehmbrock in die aufgespannte Leinwand hinein und “zeichnet” mit parallelen Schnitten Linien. Der eingeschnittene zuvor stramme Stoff rollt sich konvex oder konkav an der Kante der Verletzung ein. Das Licht bricht sich an den Schnittkanten, an denen Schatten geworfen werden, Licht-Schatten-Kontraste heben in Verbindung mit dem Blick auf das Füllmaterial in den Tiefenschichten den Objektcharakter der Werke hervor. Die Künstlerin entwickelt dabei ein Vorgehen weiter, mit dem Lucio Fontanas die Kunst revolutionierte: Mit seinen Arbeiten des concetto spaciale hinterlegte er Schnitte mit Gaze und erzielte eine räumliche Wirkung.
Die Werkreihe Naturalis besteht in ihrer eher offenstrukturierten Außenhaut aus naturbelassenem, grobgewebtem Sackleinen. Die großen Gitter-Maschen (ebenfalls Überkreuzungen waagerechter und senkrechter Linien) lassen materialbedingt gesiebte Durchblicke zu und ermöglichen ein selektives, gefiltertes Sehen. Die Objekte wirken wie Schatzkammern, in denen Reliquien oder wertvolle Trophäen aufbewahrt werden. Unterschiedlichste Verpackungsmaterialien sind als oft geweißtes Füllmaterial dicht oder locker eingearbeitet und schimmern und flirren je nach Lichtverhältnissen hindurch, variieren ihr Aussehen: Ein lebendiges, changierendes Bildobjekt mit plastischen Qualitäten und geheimnisvollem Innenleben entsteht.
Ganz anders wirken die Arbeiten der monochromen Werkreihe Signum: Edel, wertvoll, reduziert, aus feinstrukturiertem Leinen, intensiv an der obersten Haut geweißt. In einigen Werken ist sie mit mattem Karbonschwarz geschwärzt, der den Eindruck des Geheimnisvollen und Kostbaren sogar noch zu steigern vermag. Das Weißen bzw. Schwärzen wirkt harmonisierend, Licht und Schatten werden durch Nuancen übersetzt, die Schattierungen suggerieren. Lichtbedingt verändern sich auch die Nuancen im Auge des Betrachters. Die versiegelnde Farbe besitzt eine besondere Faszination: Farbe als Materie, als Malerei, als Sinnesreiz, Farbe als Signum. Die Werke der Künstlerin bieten die Möglichkeit, Malerei in ihren Grundbegriffen zu erleben. Beim Betrachten ihrer monochromen Malerei denkt man an die Arbeiten eines Robert Ryman und an die Bedeutung eines Kulturellen Weiß: Weiß, das man mit Hygiene verbindet, mit Reinheit und in der Kunst vielseitig bedeutungsträchtig ist.
Die Reihe Signum erinnert aber auch an Christos in gewöhnlichem Gewebe gehüllte und geschnürte Alltagsobjekte. Auch hier sind es kulturell begründete Assoziationen, die sich beim Betrachten wie von selbst einstellen. Werke der Reihe Signum sind gänzlich Blickdicht und kaum strukturiert, so der erste Eindruck. Sie verlangen nach einem eindringlichen und zeitinvestierenden Einsehen in Details, schulen den Betrachter im genauen Hinsehen. Nach und nach entdeckt man vor allem an den Außenbereichen der Bildobjekte Zeugnisse eingeschlossener Objekte und deren Konturen, die sich von Innen durch die Oberschicht durchzudrücken drohen.
Die gedehnte und gezerrte Haut erleidet Dellen und Wölbungen, weist Spuren auf, die Rückschlüsse auf das Innenleben zulassen und unseren Forschergeist anspornen. Abdrücke wirken wie Stempel, befremdliche kulturelle Zeichen, die zum Interpretieren auffordern und die wir zu dechiffrieren hoffen. An reduzierten Positionen näht die Künstlerin diskrete, kleine Stoffquadrate auf die Außenhaut auf, reit sie z. B. diagonal ein. Sie erzeugt damit gliedernde Akzente und fokussiert die Aufmerksamkeit. Mit spielerischem Einfallsreichtum rhythmisiert sie die Oberflächen, etwa mit quadratischen Zonen, in denen das Rastersystem Durchblicke zulässt, oder sie überrascht mit Brüchen, indem sie mit einem vom monochromen Weiß sich farblich absetzenden Längsstreifen eine bilddurchquerende Zäsur setzt.
In keinem Fall wirken die Bildobjekte von Maria Lehmbrock als wären sie industriell produziert, sondern scheinen eher organisch zu sein, von selbst entstandene Alterungs- und Verschleißspuren aufzuweisen. Sie entstehen aus von Hand gerissenen oder geschnittenen Stoffen, händig gewickelt, verwoben und verpackt. Die Künstlerin setzt in ihren Assemblagen der Reihe Signum handgemachte Stempel ein. In weißer Farbe gestrichene Filzflächen, in mehreren Lagen immer wieder umwickelt und in Quadrate geschnitten, bündelt sie z. B. zu vierer-Päckchen und legt sie unter die letzte oberste Stoffschicht, unter die elastische Haut. Der Stoff verbindet sich mit dem stark durchdrückenden Stempelensemble unter ihr zu einer Einheit, so wie Haut, Sehnen und Knochen des menschlichen Körpers zusammenschmelzen.
“Die Freude, die wir beim Malen erfahren, kann uns in den Alltag begleiten”, so eine Kernaussage Maria Lehmbrocks. Dankbarkeit und Zufriedenheit, wenn sie sich in ihre Arbeit vertieft, das ist eine Empfindung, die einen zentralen Wert einnimmt. Die Künstlerin zeigt Achtung vor der Kunst, vor dem, was da entsteht. Wichtig ist ihr dabei das Innehalten und auch das Nachbetrachten des bereits Erschaffenen. Maria Lehmbrock versteht es, ein rhythmisches Gleichgewicht zwischen Linien, rechten Winkeln und den Farben-Dimension zu erzielen. Nicht zuletzt spiegelt die Durchdringung von Sichtbarem und Unsichtbarem die Bedingungen unseres Sehens wider. Maria Lehmbrocks beseelende Bildobjekte sind meditativ und geheimnisvoll, und dabei doch so lebensnah.
Dr. Marta Cencillo Ramírez, Köln im August 2021